Ruhrbesetzung: Als im Januar 1923 alliierte Soldaten einmarschierten

Veröffentlicht am 17.01.2023 Ein französischer Soldat bewacht 1923 im Ruhrgebiet einen mit Kohlebrickets beladenen Zug Während der Ruhrbesetzung 1923 bewacht ein französischer Soldat einen mit Kohlebriketts beladenen Zug Quelle: Haus der Essener Geschichte Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen. Podcast freigeben 1923 besetzten Belgier und Franzosen das Ruhrgebiet, um Forderungen aus dem Versailler Vertrag einzutreiben. Eine Ausstellung auf Zeche Zollverein in Essen zeigt, wie das die Region bis heute prägt. Anzeige Anzeige

In der Abendausgabe der „Düsseldorfer Nachrichten“ vom 11. Januar 1923 beschwor Reichspräsident Friedrich Ebert seine „treuen rheinisch-westfälischen Brüder“, dass sie „diesen Wetterbraus“ überdauern würden, und zwar mit „eiserner Zähigkeit“. Was den Sozialdemokraten in Berlin zu einem solch markigen Appell veranlasste, war die am selben Tag begonnene Besetzung des Ruhrgebiets durch französisches und belgisches Militär. Gegen 14 Uhr waren die aus Düsseldorf kommenden Franzosen zu Pferde und mit Panzern am Essener Rathaus angekommen, die Belgier kamen teils mit dem Fahrrad aus dem nahen Duisburg.

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„Das war schon sehr erschreckend und martialisch“, sagt Heinrich Theodor Grütter, Direktor des Essener Ruhr-Museums, zum Auftakt der Ausstellung „Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925“. Dabei hätten die Alliierten damals jedes Recht gehabt, einzumarschieren. Denn Deutschland war mit den Reparationszahlungen in Verzug geraten, zu denen es sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg im Versailler Friedensvertrag verpflichtet hatte. Grütter erinnert zugleich daran, dass es in Frankreich und Belgien bis heute Gebiete gebe, in denen als Folge des „Großen Krieges“, wie ihn die Franzosen immer noch nennen, keine Landwirtschaft mehr möglich ist.

Bis zu 100.000 Soldaten

Für das Ruhrgebiet, das wenige Tage nach dem Einmarsch in Essen komplett eingenommen war, hatte die bis Mitte 1925 andauernde Besetzung gravierende Auswirkungen. Der 11. Januar 1923 bildete den Auftakt eines Krisenjahres, das von Inflation, Umsturzversuchen, Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit geprägt war, wie in der Essener Ausstellung eindrucksvoll gezeigt wird. Der Militäreinsatz zu Friedenszeiten trug Züge einer Kriegsbesetzung. Bis zu 100.000 Soldaten waren zeitweise in der Region stationiert, die bis dahin nicht unter dem Begriff Ruhrgebiet bekannt war. Die Besetzung brachte die im 19. Jahrhundert so prosperierende Region an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belastbarkeit.

Französische Kavallerie in Gelsenkirchen-Buer, 1923 Quelle: © Fotoarchiv Ruhr Museum Anzeige

Der neue französische Ministerpräsident Raymond Poincaré vertrat eine harte Linie. „Deutschland hat uns nicht die Kohle gegeben, die es uns schuldet“, verteidigte er vor dem Parlament in Paris seine Einmarschpläne. „Es ist nur natürlich, dass wir sie jetzt auf den Zechen suchen.“ Die Soldaten sollten quasi als Bewacher mit den Ingenieuren und Beamten in die Bergwerke gehen, belgische und französische Ingenieure aus Lüttich und Longwy dafür sorgen, dass die Kumpel an der Ruhr auch genug lieferten, so zumindest der Plan. Denn in Frankreich war Kohle Mangelware, bei ihrem Rückzug hatten die deutschen Truppen auch Bergwerke zerstört, wie Museumschef Grütter zu berichten weiß.

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Doch der Zugriff auf die Ruhrkohle gestaltete sich schwieriger als gedacht. Denn die Regierung in Berlin hatte unmittelbar nach Beginn der Besetzung den passiven Widerstand ausgerufen und alle Reparationszahlungen eingestellt. Jede Zusammenarbeit mit den Besatzern sollte unterbleiben, das betraf sowohl Wirtschaft und Industrie als auch Verwaltung und Polizei. Im Gegenzug schoben die Franzosen rund 140.000 Menschen, etwa Mitarbeiter von Polizei, Reichsbahn und anderen Behörden, wegen ihrer Weigerung in den unbesetzten Teil des Reiches vorübergehend ab.

Der von der Ruhrindustrie und vom Reich finanzierte passive Widerstand ruinierte die deutsche Währung vollends, die Hyperinflation führte zu einer Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit erreichte bislang unbekannte Ausmaße. Im August 1923 kostet ein Glas Bier bereits 100.000 Mark. Am Ende dieses „verheerenden Jahres“, wie es Zeitzeuge Hermann Josef Abs, der spätere Chef der Deutschen Bank, 1991 in seine Erinnerungen schreibt, wird die Besetzung den Mythos Ruhrgebiet begründen und zugleich das Trauma der Inflation.

Tote auf beiden Seiten

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Zum Abtransport der Kohle aus dem Ruhrgebiet war die Bahn von zentraler Bedeutung. Doch die Weigerung der hiesigen Eisenbahner zur Kooperation stellte die Franzosen vor erhebliche Herausforderungen. So mussten sie in kürzester Zeit ein eigenes Bahnsystem mit Kräften aus Belgien und Frankreich realisieren, was aufgrund der Komplexität des Gleissystems zu Unfällen und Störungen führte.

Hinzu kamen Sabotageakte und Anschläge. So starben Ende Juni 1923 bei einem Sprengstoffattentat auf einen belgischen Militärzug in Duisburg neun Soldaten sowie einige Fahrgäste. Der Saboteur Albert Leo Schlageter wurde nach einem Prozess wegen anderer Anschläge und des Vorwurfs der Spionage in Düsseldorf zum Tode verurteilt und später standrechtlich erschossen.

Der schwerwiegendste Zwischenfall während der erst Mitte 1925 endenden Besatzung ereignete sich am 31. März 1923 auf dem Gelände von Krupp in Essen. Dort hatte sich eine französische Einheit von zwölf Mann, die Fahrzeuge beschlagnahmen wollte, durch eine anwachsende Menge von Arbeitern und Angestellten wohl in die Enge getrieben gesehen und das Feuer eröffnet. 13 Männer starben, zahlreiche wurden im Kugelhagel an der Altendorfer Straße verletzt, wo sich heute der Teich vor der Zentrale von Thyssenkrupp befindet.

Dieses deutsche Propagandaplakat von 1923 sollte die Weigerung von Behörden und Bevölkerung untermauern, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Quelle: © Stadtarchiv – Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte Anzeige Anzeige

„Von Duisburg bis Dortmund bildete sich ein lager- und vor allem ein klassenübergreifendes Solidaritätsgefühl“, erläutert Ausstellungsleiter Grütter. „Zugleich rückte das Ruhrgebiet in den überregionalen Fokus, indem hier der nationale Widerstand gegen die angebliche Demütigung durch die alliierten Kriegsgegner zelebriert wurde.“

Doch die Besetzung kam nicht völlig unerwartet. Die alliierte Reparations-Kommission hatte bereits am zweiten Weihnachtstag 1922 ganz offiziell festgestellt, dass die Deutschen mit den Kohlelieferungen gemäß Versailler Vertrag im Rückstand seien. Die Lieferkette für die Eisenhütten in Lothringen stockte. Offenbar hatte man auch in der Ruhrwirtschaft eine Vorahnung, dass die Alliierten aus dem teilweise besetzten Rheinland weiter ins Ruhrgebiet vordringen könnten. So erklärt sich auch, dass noch kurz zuvor die Geschäftsunterlagen des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in einem Sonderzug von Essen nach Hamburg geschafft wurden, um den Besatzern die Arbeit zu erschweren.

Nach Ausrufung des passiven Widerstands in Berlin hatten Unternehmer und Gewerkschaften an der Ruhr zunächst einen Schulterschluss demonstriert. Viele Betriebe standen in den ersten Monaten des Jahres 1923 still, eine neu eingerichtete Zollgrenze behinderte zudem den Warenaustausch mit den anderen Gebieten des Reichs. Wegen seiner Weigerung, Reparationskohle an Frankreich zu liefern, wurde der Unternehmer Fritz Thyssen verhaftet und zu einer Geldstrafe verurteilt. Ein Abkommen mit einer Kontrollkommission stellte jedoch ab Herbst 1923 die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Besatzern auf eine neue Grundlage, der neue Reichskanzler Gustav Stresemann verkündete das Ende des passiven Widerstands.

Französische Soldaten beim Feiern während der Ruhrbesetzung Quelle: © Fotoarchiv Ruhr Museum

Im Museum und im Begleitbuch ist auch viel über die Befindlichkeiten der Bevölkerung zu erfahren. „Das ist ein trauriger Jahresanfang“, schrieb die Kaufmannsfrau Elisabeth Böhmer in ihren Erinnerungen. „Gerade vor unserem Haus stehen eine Menge Kanonen und ein endloser Zug von Reitern. Die Franzosen halten Einzug in unsere Stadt.“ Und da Männer die Offiziere grüßen mussten, „gehen sie alle ohne Hut“, schreibt sie später im Jahr 1923.

Die Ruhrbesetzung wurde auch zu einer Propagandaschlacht, zum Kampf der Worte und der Bilder. Mit Plakaten, Flugblättern und Broschüren versuchten beide Seiten, die Öffentlichkeit in Deutschland und im Ausland zu beeinflussen. Die deutsche Propaganda hob die Unrechtmäßigkeit der Militäraktion hervor und sah sich als Opfer französischen Expansionsstrebens. Die französisch-belgische Propaganda wiederum war bestrebt, die öffentliche Meinung von der Rechtmäßigkeit der Besetzung zu überzeugen.

Und die französischen und belgischen Soldaten? Sie lebten in beständiger Angst vor Attentaten, die Bevölkerung stand ihnen überwiegend feindlich gegen. Sie litten auch unter mangelnder Versorgung und schlechten Unterkünften. So habe ein Soldat namens Louis nach Hause geschrieben, dass er vier Monate lang „nur den Fußboden als Matratze“ hatte, wie der am Ruhr-Museum arbeitende französische Wissenschaftler Benjamin Volff berichtet. Er hat für die Ausstellung zahlreiche Briefe von Soldaten in ihre Heimat ausgewertet und ins Deutsche übersetzt.

Versöhnung zu Ostern

In der Ausstellung ist viel über Abneigung und Hass nur wenige Jahre nach Ende des Weltkrieges zu erfahren. Aber es gab auch versöhnliche Gesten: So setzte sich Etienne Bach (1892–1986), ein französischer Offizier aus Elsass-Lothringen, der in Datteln stationiert war, für die Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen ein. Als er 1923 beim Besuch eines Gottesdienstes zu Karfreitag auf seinen bis dahin erbitterten Gegner, den Beigeordneten Karl Wille, traf, reichten sich beide Männer nach der Zeremonie die Hände und gingen in der Folgezeit verständnisvoller miteinander um.

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1963 kehrte Etienne Bach nach Datteln zurück, um der Gemeinde einen silbernen Abendmahlskelch zu stiften, der in der Ausstellung zu sehen ist. „Das war in dem Jahr, in dem der Élysée-Freundschaftsvertrag geschlossen wurde, dessen 60-jähriges Bestehen wir gerade begehen“, sagt Museumsdirektor Grütter. „Wir machen diese Ausstellung auch, um zu zeigen: Geschichte ist ein offener Prozess, den man aktiv gestalten kann.“

„Hände weg vom Ruhrgebiet“: Die Ausstellung des Ruhr-Museums in der Kohlenwäsche auf der Essener Zeche Zollverein präsentiert den Besatzungsalltag in den Jahren 1923 bis 1925 mit mehr als 200 eindrucksvollen Exponaten, darunter zahlreiche Fotografien, selten zu sehendes Filmmaterial, Postkarten, Flugblätter, Plakate, Ausweise und weitere Dokumente, aber auch Medaillen, Gedenktafeln, Waffen und Uniformen. Einige Objekte kommen aus Museen in Berlin und Brüssel sowie aus dem Musée de la Grande Guerre im französischen Meaux. Während der bis zum 28. August laufenden Schau findet ein umfangreich angelegtes Rahmenprogramm statt. Tickets gibt es im Museum sowie im Netz.

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